21
Gleich hinter der Türe hörte sie ihre Schwester Fränzel schreien und weinen; sie hatte ihren kleinen Manfred im Gedränge verloren und war ohne ihr Kind einfach weitergeschoben worden. Als sie das Bündel im Arm meiner Mutter entdeckte, schlug ihr Geschrei blitzartig in Freuden-geheul um; sie wickelte aus Bügeldecken und langen Herrenunterhosen ihren kleinen Manfred heraus und tanzte vor Freude durch den Bunker.
Marlene und ich gingen sehr gerne in den Bunker. Das lag hauptsächlich an Fräulein Lüttiken und an ihrem Kasperle, dem Teufel und ihrer Gretchenpuppe. Das Fräulein war eine körperlich behinderte junge Frau von etwa 25 Jahren. Sie hatte einen viel zu großen Kopf, der auf einem kleinen Körper saß, hatte großer braune Augen und einen blonden Lockenschopf. Ihr Stammplatz im Bunker war am Ende des Felsenkellers, direkt vor der Mauer, wo noch ein großes Weinfass stand. Direkt vor dem Fass war ein Lagerplatz für die Bunkerkinder.  Über dem Fass brannte eine elektrische Birne und auf dem Fass hatte Fräulein Lüttiken zwei dicke Kerzen mit großen Wachstropfen aufgeklebt.
Wenn dann wegen Überfüllung die Bunkertür mit einem dumpfen Knall geschlossen wurde, wenn die Erwachsenen von den großen Fliegerverbänden raunten und die grauenvolle Schönheit der Leucht-bomben als Christbäume priesen, wenn dann plötzlich eine Luftdruckwelle von einem nahen  Bombeneinschlag den Bunker durchlief, wenn dann plötzlich die elektrische Birne zu schwanken begann und dann erlosch, wenn dann Totenstille im Bunker um sich griff, dann war die Stunde von Fräulein Lüttiken gekommen. Ein Streichholz flammte in der Dunkelheit auf und zündete die beiden Kerzen auf dem Fass an und das kleine Kasperle erschien oben auf dem Fass, neben dem Spundstopfen
  und fragte leise: “Seid ihr alle da?“ Und dann erzählten Kasperle oder Gretel Geschichten von kleinen Kindern und Elfen und Trollen und Kälbchen und, und, und, und alle Geschichten hatten ein gutes Ende und Kasperle und seine Grete tanzten vor Lebensfreude auf dem alten Weinfass: Irgendwann ging dann knirschend die Bunkertür auf und alle verließen schnell den dunklen, feuchten Luftschutzbunker. Marlene und ich blinzelten in das Sonnenlicht und waren traurig, weil die Geschichte von der Fee und der armen Gretel leider nicht ganz bis zum Ende erzählt werden konnte und wir freuten uns auf die Fortsetzung beim nächsten Fliegeralarm. Die Bürger der Stadt sahen sich die Bombenschäden an, halfen die Trümmer zu Seite zu räumen, bargen die Toten und hörten gespannt dem amtlichen Ausscheller zu, der mit wichtiger Stimme seine Bekanntmachung ausrief:    
               
                    „Bekanntmachung! Bekanntmachung!
         Auf die Abschnitte 7b bis 7k der Lebensmittelkarte
                          gibt es heute 30 Gramm Butter“.

Das war endlich einmal eine sehr erfreuliche Nachricht und alle bemühten sich, schnell zum Milchladen zu eilen. Die Nachrichten in der morgendlichen Zeitung waren weniger gut gewesen. Trotz der erfolgreichen Abwehrbemühung war die Westfront wieder ein Stück näher gerückt und wieder waren Söhne, Väter, Onkel und Neffen und Freunde und Nachbarn an der Front für Volk und Vaterland gefallen. Von Papa August waren keine Nachrichten eingetroffen. Das war immerhin noch besser als ein Nachruf in der Zeitung.

Info
Gehen  Sie  mit dem Cursor über die schwarzen Punkte.
Mit den grünen
Pfeilen können
Sie vorwärts oder
rückwärts
blättern
oben rechts sehen
Sie die
rote Seitenzahl
 
 


Diese Info
können Sie mit den
grünen Buttons
aus- oder einschalten