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Horst war etwas älter als ich, etwas kleiner und hatte strubbelige blonde Haare und nette Hängebacken. Seine Familie war in Frankfurt aus-gebombt worden und der Vater hatte sich mit einer jungen Flakhelferin aus dem Staube gemacht.  Mutter Anneliese war die Tochter von Josef Popp, der ein Bruder von Opa Franz war und damit fiel sie unter Opas Schutzschirm. Mit diesem Privilegausgestattet erschien Horst in einer Kriegspause und stellte sich bei Mutter Maria vor. Das tat er in einer vollendeten Mischung aus Frauenversteher, verlassenem Halbwaisenkind, strammem Hitlerjungen und erfahrenem Großstadt-Stenz. Bevor er an der Türe der Maria Masson anklopfte spukte er dreimal kräftig in die rechte Hand und strich damit seine struppigen Haare glatt, die Schuhe hatte er zuvor an dem bodenlangen Vorhang im Flur poliert. Dann trat er ein, streckte seine Hand zum Gruß rechtwinklig vom Körper der Dame entgegen, schlug die Hacken ganz leicht zusammen und machte einen Diener, der einem Handkuss sehr ähnlich sah. Sein eleganter hessischer Tonfall klang sehr großstädtisch und welterfahren, auch wenn er für das schöne Wort „Pippi machen“ einfach „brunzen“ sagte.
Mutter Masson war von dem perfekten Auftritt begeistert und bot Horst zum Abschied einige Apfel an. Bescheiden steckte er den kleinsten Apfel in seine Hosentasche und bedankte sich überschwänglich. An der Haustür fragte ich, warum er nicht alle Äpfel genommen hätte und Horst lachte und sagte: „Wenn ich alle genommen hätte, würde deine Alte mir nie wieder Äpfel anbieten!“  Von diesem Zeitpunkt an war die Rollenverteilung zwischen den beiden Jungen geklärt.
  Kurz darauf erschien Horst noch einmal in der Hebegasse vor der Doctor-Weinstube und lockte mich aus dem Haus. Geheimnisvoll
teilte er mit, dass er unten, hinter der Volksschule, einen unbewachten Militärlastwagen entdeckt habe, der eindeutig nach frischem Brot roch. Kommissbrot sei sehr begehrt und, wenn es frisch wäre, durchaus gut essbar und außerdem könne man gut und gerne für ein Kommissbrot
fast 2 Schachteln „Blaue Pilot“ eintauschen. Für die Zigaretten bekäme er dann ausreichend Dünnbier, welches er brauchte, um seinen Opa einzuschläfern. Opa brauche einen guten Schlaf, damit er sich nicht so aufrege, wenn Horst nachts aus dem Haus schlich. Das alles klang sehr logisch. Also zogen wir los,
um ein paar Brote zu organisieren.
Ein großer grauer Militär-Lastwagen stand mit der Rückseite zur Wand.  Da der Endsieg schon vor der Türe stand, war weit und breit kein wachhabender Soldat zu sehen. Man konnte die beiden Soldaten aber hören, wie sie ganz hinten in der Schwanenstraße mit den Bedienungen aus der Gaststätte „Moselblümchen“ schäkerten. Sie hatten die „Schiffchen“ schief auf dem Kopf, Zigaretten im Mund und eine Flasche Wein in der Hand. Eigentlich waren sie auf dem Weg zur Front, die nicht mehr weit weg war; aber das Kichern der Mädchen erschien ihnen im Moment wichtiger als das Singen und Pfeifen der Gewehrkugeln.
Horst fand die Situation absolut sicher und schob mich an den Militärwagen heran. Über der Ladefläche waren Zeltplanen ausge-
breitet, die mit Lederriemen an den Seiten des Wagens festgemacht waren. Wir kletterten auf den Wagen und begannen, die Riemen
zu lösen und die Zeltplanen zur Seite zu ziehen. Ich stand Schmiere und Horst kroch unter die Plane, von wo er sofort mehrere duftende Kommissbrote durch das Loch nach außen reichte.
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