23
Als Horst die nächsten Brote hervorzog, vernahmen wir das Klicken
eines richtigen Gewehrschlosses und ein echt deutsches

 „Hände hoch“.

Zwei Soldaten mit Gewehren quer vor der Brust standen neben dem Lastwagen und forderten uns mit eindeutigen Bewegungen der Gewehrläufe auf, vom Wagen abzuspringen. Das tat ich auch sofort und sprang in panischer Angst in die Rolle Stacheldraht, die neben dem Lastwagen auf dem Boden lag. Mein Gebrüll stimmte die beiden „Wachhabenden“ etwas versöhnlicher. Sie sagten sehr belehrend, dass ich aufhören soll zu schreien, weil ein echter deutscher Junge, keinen Schmerz kenne. Horst deutete den Anfall von Menschlichkeit der Uniformierten psychologisch richtig und sagte mit Tränen in den Augen, dass sie diese Schandtat aus reinem Hunger begannen hätten und
dass sie es sehr bereuen würden. Die Soldaten, denen meine große blutende Wunde und das erbärmliche Flehen von Horst unangenehm waren und weil sie wieder in die Schwanenstraße zu ihren Mädchen wollten, entschieden, dass jeder ein Brot behalten darf, wenn Horst den verletzten Freund nach Hause begleiten würde. Horst bedankte sich überschwänglich und fragte sie demütig, ob er auch ein weiteres Brot, welches unter den Laster gefallen war, mitnehmen dürfe. Als sie nickten, hob er das Brot auf und schob seinen Vetter, der vor Schmerzen nicht mehr an sein Brot dachte, vor sich her in die Hebegasse. Hier erklärte mir Horst, dass ich noch viel lernen müsse, wenn ich nicht hungrig
sterben wolle. Dann zog er mit seinen beiden Broten weiter und ließ
mich ohne Brot auf der Straße stehen
  Ich klingelte bei Tante Nana, die sofort ihr Küchenfenster zur
Doctor-Weinstube öffnete und die liebe Hilde zu sich beorderte. Im Handumdrehen hatte Hilde den Jungen gewaschen, die Schuhe
geputzt und das große Loch im rechten Hosenbein geflickt. Etwas quälender und langwieriger war die medizinische Behandlung, die
Nana ihrem geliebten Neffen antat. Leider verwechselte sie das Wundermittel „Sulfonamid“ mit einem Desinfektionsmittel und puderte damit die Wunde ein. Als sich Tante Nana von meinem Geschrei erholt hatte, verfluchte sie lautstark und sehr unvorsichtig den Krieg, die nachlässigen Wachsoldaten, den Drogisten Hippler, der ihr das Heilpulver angedreht hatte, sowie den lieben Gott und Adolf Hitler, die beide wohl das Geschehen nicht mehr so richtig im Griff hätten. Ein abendlicher Voralarm unterbrach die Arie der Tante, die sich nunmehr vollends ihrem Kind, dem kleinen Manfred zuwenden konnte. Die
Folgen der Wundbehandlung sind auch heute noch zu bewundern.
In der Tat hatte anscheinend niemand mehr das Geschehen so richtig
im Griff. Die kleine Stadt war voller Leute, die da nicht hingehörten. Soldaten fuhren durch die Stadt an die Front,  andere Soldaten fuhren von der Front weg, auf Autos, Karren und Wagen, wohlverpackt in
Watte und Wundbinden, in Richtung des letzten noch
offenen Fluchtweges, SS-Leute saßen in den Kneipen und tranken
teuren Wein, den sie nicht mehr bezahlten oder sie tranken Trester,
der sehr viel schneller half, die Zukunft gnädig zu verdunkeln. Ein Jungscharführer in voller Uniform ohrfeigte einen Klempnerlehrling,
der wegen einer Ladung alter Rohrer auf seinen Schultern keine Hand frei hatte für den Hitlergruß; der Vater des Lehrlings, der
Klempner-meister Wirz, ohrfeigte daraufhin den Führer der Hitlerjugend auf dem
Info
Gehen  Sie  mit dem Cursor über die schwarzen Punkte.
Mit den grünen
Pfeilen können
Sie vorwärts oder
rückwärts
blättern
oben rechts sehen
Sie die
rote Seitenzahl
 
 


Diese Info
können Sie mit den
grünen Buttons
aus- oder einschalten